Mittwoch, 17. Juni 2020

Rezension: Hippocampus von Gertraud Klemm

© Kremayr Scheriau Verlag
Irgendwie hat das Unglück der Österreicher mit dem Sonntag zu tun. Mit diesem Nine-to-five, Montag bis Freitag und mit diesen gesetzlichen Feier- und Urlaubstagen. Von einem Feiertag wird zum nächsten gejammert, im Winter zum Frühling hingejammert, im Frühling wird der Sonnenschein herbeigesehnt, und wenn es mal im Mai heißt ist, jammern alle wegen des Klimawandels. Die Menschen vor den Fernsehern und Radios haben immer den Freitag im Blick, damit endlich Samstag und Sonntag folgen. So will er niemals werden. - Seite 8

Bild- und Zitatrechte: Kremayr & Scheriau Verlag

Inhaltsangabe:
Helene Schulze ist tot. Eine vergessene Autorin der feministischen Avantagarde, die ausgerechnet jetzt als Kandidatin für den Deutschen Buchpreis gehandelt wird. Ihre Freundin Elvira Katzenschlager sortiert Helene's Nachlass und findet sich in einer Marketingmaschinerie voll Gier, Sensationsgeilheit und Neid wieder. Als sie sich mitten in einem Nachruf-Interview befindet, bricht sie dieses ab und begibt sich mit dem wesentlich jüngeren Kameramann Adrian auf einen Roadtrip durch Österreich, um die verzerrte Biografie ihrer Freundin richtigzustellen. Was als origineller Rachefeldzug beginnt, wird immer mehr zum Kreuzzug gegen Bigotterie und Sexismus. Sie verkleiden Heldenstatuen, demontieren Bildstöcke und stören Preisverleihungen. Immer atemloser, immer krimineller werden die Regelbrüche der beiden auf ihrem Weg nach Neapel, wo die letzte Aktion geplant ist.

Und obwohl er das alles weiß und jetzt schon seit zwei Jahren dabei ist, deprimiert ihn immer mehr, wie viel Illusion erzeugt werden muss, um die Zuschauer für eine Naturdokumentation bei Laune zu halten. Vogelkinder mussten ihre Mütter verlieren, Löwenmütter ihren Kindern beim Gefressenwerden zusehen, die Elemente mussten rebellieren und der Lebenskampf toben. Erst wenn Natur mit Storytelling und Mitleidhaschen gespickt wird, ist sie so richtig essfertig für den Durchschnittstrottel vor dem Bildschirm. - Seite 9-10

Meine persönliche Meinung:
Aus diesem Buch habe ich mir so viele Buchzitate herausgeschrieben, die einfach wie eine Faust aufs Auge gepasst haben. Frau Klemm hat uns Österreicher herrlich locker in diese Geschichte miteingebunden. Wie wir so ticken und auch denken. Oder aber auch einfach ein paar Zeilen, die komplett aus dem Leben gegriffen sind, in denen wir uns selbst tagtäglich widerfinden. Buchzitate, die ich euch in diese Rezension miteinbinden werde, damit ihr selbst lesen könnt, was ich meine. 

Beginnt man diesen Roman zu lesen, spürt man sofort, dass es sich hier um eine sprachlich anspruchsvolle Geschichte handelt. Die Autorin bringt uns die Welt der Literaturbranche näher und weist uns stets daraufhin, wie wichtig feministisches Engagement tatsächlich ist.

Wenn Ehepaare miteinander altern, wachsen die Frauen über sich hinaus und über ihre Zuständigkeiten. Dann wachsen sie um die Männer herum und ersticken sie mit ihrer Fürsorglichkeit, damit sie im Alter noch jemanden haben, den sie dank günstiger Seniorentickets durch die Welt schleifen können. Frauen schicken ihre Männer zur Arbeit, zum Arzt, sie untersagen ihnen das Rauchen, sie ernähren sie mit Gemüse und Getreide und rationieren den Alkohol. Zur Belohnung für die Beschneidungen ihrer Bedürfnisse können jene Männer ein paar Jahre älter werden als die ohne Partnerin. Er sieht das bei seinen Eltern und bei den Eltern seiner Freunde und auch bei Fremden. Überall schwingt die Kontrolle der Ehefrauen mit. Diese paar Jahre zusätzliche Lebenserwartung bezahlen die Ehemänner mit Bemuttertwerden und Quasikastration. Sie müssen sich sagen lassen, wie und wo sie ihre Schuhe hinstellen, ihr Sakko aufhängen, wie oft sie Blutdruck messen müssen, und im Zug müssen sie sich Jausenbrote in Alufolie aushändigen lassen und halbe Äpfel, aus denen die Frauen vorsorglich das Kerngehäuse mit dem kleinen Taschenmesser, das sie ja immer dabeihaben, herausschneiden und mit einem Stück Küchenrolle auffangen. - Seite 12

Die beiden Hauptcharaktere werden von der Autorin benutzt, um Geschlechterklischees drunter und drüber zu werfen. Adrian, der junge Fotograf des Interview-Teams, befindet sich in einer typisch weiblichen, dienenden Funktion. Er begleitet Elvira als "Assistent" auf ihrem Road Trip um diesen zu dokumentieren. Adrian hat ganz bestimmte Ansichten, was alte Frauen betrifft. Mit diesen Ansichten wird er tagtäglich von Elvira, die von ihm ja als alt bezeichnet wird, herausgefordert. Sein Leben besteht bisher darin, dass er seinen Alltag als Möchtegern-Liebhaber einer jungen Frau verbringt, während Elvira ihm zeigt, wie lässig sie in Liebesdingen umgeht. Elvira ist eine unglaublich starke Person, der vollkommen egal ist, was andere von ihr denken. Sie hält es nicht aus, wie ihre tote Freundin Helene dargestellt wird und tut alles, um das zu ändern, ohne Rücksicht auf irgendwas oder irgendjemanden. Manchmal musste ich regelrecht schlucken, da sie Aktionen bereithält, die ich fast schon ein wenig zu übertrieben empfunden habe. Damit bekommt sie jedoch ihre Aufmerksamkeit, die sie haben möchte und zieht ihr Ding einfach durch.

Die Menschen machen Licht, bevor es dunkel ist, sie heizen, bevor es kalt wird, sie sterben, bevor sie leben. - Seite 38

Die erste Hälfte des Buches konnte mich noch so richtig packen, während ich die zweite Hälfte eher als anstrengend empfunden habe. Anfangs fand ich den Road Trip von Elvira und Andrian noch ziemlich amüsant, schon bald legte sich dieses Gefühl aber ein wenig und kippte für mich schnell ins übertriebene rüber. Es fühlte sich während dem Lesen einfach an, als käme nichts mehr neues und die Geschichte plätscherte so vor sich hin. Ich habe stets gehofft, dass noch irgendwas spannendes oder anderes passieren wird, dass mich aus dieser Lethargie wieder herausholen wird. Ich habe das Buch wirklich gerne gelesen und auch der Schreibstil gefiel mir richtig gut, aber all die Aktionen die Elvira durchgezogen hat, waren dann einfach irgendwann too much. Man hätte auch anders handeln können, um Helene Schulze's Leben oder sie als Person aufleben zu lassen um all den Menschen zeigen zu können, dass sie anders war, als alle gedacht haben.

Sie versteht immer mehr, warum Terroristen so brutal werden müssen. Es hört ihnen ja sonst niemand zu. Sie lassen sich die Aufmerksamkeit der Gesellschaft in Menschenleben bezahlen, sie errichten Installationen aus Schmerz und Leid und nehmen in Kauf, dass man sie hasst und verfolgt und von all den Forderungen, die sie im Zusammenhang mit ihren Aktionen stellen, gar nichts mehr mitbekommt. Terror ist auch nur eine Protest-Kunstform, denkt Elvira verwundert, wenn auch eine sehr widerliche, abstrakte. - Seite 299


Nichtsdestotrotz konnte mich Gertraug Klemm überzeugen bzw. hat sie mich neugierig gemacht und ich habe mir nun "Muttergehäuse" von ihr gekauft. Von "Hippocampus" sollte sich jeder einfach selbst überzeugen. Ich habe sehr viele ganze positive Rückmeldungen in der Arbeit erhalten. Für mich war die Geschichte irgendwann zu eintönig.


  • Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
  • Verlag: Kremayr & Scheriau; Auflage: 1 (9. August 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3218011779
  • ISBN-13: 978-3218011778
  • Preis: 22,90€ (A)
https://www.buecher-stierle.at/item/33458435?back=9fe2997bd0c4fd09e298e4c40d7c9a95
- draufklicken und in der Buchhandlung bestellen, in der ich arbeite :)

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