Montag, 16. August 2021

Rezension: Die jüngste Tochter von Fatima Daas


Als ich zum ersten Mal meine Tage bekomme, habe ich gerade Sportunterricht. 
Ich merke, dass ich ein Mädchen bin.
Ich weine.
Abends sage ich zu meiner Mutter, dass ich das nicht will.
Sie erklärt mir, dass es ganz natürlich sei.
Ich hasse die Natur. - Seite 49
 
Inhaltsangabe:
Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer heiligen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den ich ehren muss. 
Fatima ist das Kind, auf das keiner mehr gewartet hat, die Nachzüglerin, die einzige Tochter, die in Frankreich und nicht in Algerien zur Welt gekommen ist. Sie wächst mit ihren Schwestern in der berüchtigten Banlieue Clichy auf. Liebe und Sexualität sind in ihrer Familie ein Tabu. In der Schule ist Fatima unangepasst, laut und voller Wissensdurst. Sie hängt am liebsten mit den Jungs herum und fühlt sich falsch in ihrer Haut. Bis sie Nina trifft und ihre eigenen Gefühle für sie erkennt. Doch eine Frau zu lieben, bringt sie nicht nur in Konflikt mit ihrer Familie, ihrem Glauben, sondern auch mit sich selbst.
 
Bild- und Zitatrechte: Claassen Verlag. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. 
 
Als Jugendliche schaue ich meinem Vater in die Augen.
Ich sage zu ihm: 
"Du bist ein Monster!"
Es ist das erste Mal, dass ich etwas so Starkes denke.
Seit diesem Tag hat er nicht mehr mit mir gesprochen und ich auch nicht mit ihm. - Seite 59
 
Meine persönliche Meinung:
Herzliche Gratulation an Fatima Daas, die für diesen autobiographischen Roman den internationalen Literaturpreis 2021 erhalten hat. Ein Buch, dass nur 190 Seiten hat und sich somit sehr schnell lesen lässt. Ein dünnes Büchlein, dass es jedoch in sich hat.
 
Ich heiße Fatima Daas.
Ich schreibe Geschichten, um meine eigene nicht zu leben. - Seite 60
 
Ich heiße Fatima. Ich heiße Fatima Daas.
Mit diesem Satz beginnt fast jedes Kapitel.  
Fatima ist zwölf, als sie anfängt, sich wie ein Junge zu kleiden. Sie ist Französin algerischer Herkunft. Ihre Eltern und ihre beiden Schwestern sind in Algerien geboren, sie selbst in Frankreich. An einem Abend begreift Fatima, dass sie nicht die ist, die ihre Eltern erwartet haben. Die Tochter, die sie sich ausgemalt haben, der Sohn, den sie nie hatten. 
 
Manchmal, wenn die Leute an mir zweifeln, fange ich selbst an, an mir zu zweifeln, das ist lustig, ich lüge, um ihnen recht zu geben, aber dieses Mal habe ich keine Lust, weil die Aufgabe leicht gewesen ist und mir keinen Spaß gemacht hat.
Also schweige ich. - Seite 76

Als Fatima Nina kennenlernt, merkt sie schon bald, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Sie merkt aber auch, dass ihr nie beigebracht wurde, zu lieben, was es heißt geliebt zu werden. Da sie gläubige Muslimin ist, ist es ihr untersagt, homosexuell zu sein. Sie hadert mit ihrer Identität, den Konventionen und Erwartungen ihrer Familie.

"Gott hat Mann und Frau geschaffen. Gott gefällt es nicht, wenn ein Mädchen wie ein Junge aussehen will." Ausnahmsweise spricht sie französisch mit mir.
Ich antworte ihr nicht.
An dem Morgen umarme ich sie nicht.
Ich verlasse das Haus mit einem Kloß im Hals. - Seite 83

Über ihre Familie spricht Fatima nicht gerne. Ihre Mutter hat ihr bereits sehr früh beigebracht, Probleme in den eigenen vier Wänden zu lassen, da sie eine Phobie vor dem Draußen hat. Ihre Schwestern und auch sie haben jahrelang versucht die eigene Mutter zu überzeugen, sich von dessen Mann, ihrem Vater, zu trennen. Dieser Wunsch hat sich allerdings nie erfüllt, aus Angst, die Familie zu zerstören. Fatimas Schwester Dounia ist mit sechzehn zum ersten Mal abgehauen, wurde vergewaltigt und am selben Abend hat sie von ihrem eigenen Vater nichts anderes als "Schande" zu hören bekommen. Eine Schande für die ganze Familie. Ein Vater, den man selbst nicht haben möchte.

Ich finde selbst, dass es schrecklich ist, "Ich liebe dich" zu sagen.
Ich finde, es ist ebenso schrecklich, es nicht zu sagen.
Es nicht zu schaffen, sich selbst daran zu hindern. - Seite 104
 
Sätze, die weh tun, die mich sehr nachdenklich zurückgelassen haben. Dieses Buch ist eine Wucht und man fliegt nur so durch die Seiten. Ich habe "Die jüngste Tochter" fast in einem Rutsch durchgelesen und musste die Geschichte am Ende erst einmal sacken lassen. Furchtlos und wunderbar poetisch wird uns das Leben der Fatima Daas erzählt. Ein Schreibstil, der sehr schlicht aber auch wahnsinnig intensiv ist. Große Leseempfehlung!
 
Ich heiße Fatima.
Fatima ist ein weiblicher muslimischer Vorname.
Ich soll ein Mädchen sein, also fange ich an, mich in der Schule zu schminken.
Ich trage mein Haar lang.
Ich sehe immer mehr aus wie eine Frau.
Das gefällt den Jungs.
Mir gefällt es nicht. - Seite 109

"Gott hat Adam und Eva geschaffen und nicht Eva und Eva. Nach der gleichgeschlechtlichen Ehe werden wir noch die Ehe mit Tieren oder Kindern erlauben." - Seite 173-174

"Man liebt die Menschen nicht, weil sie einen zurücklieben. Man liebt sie. Das ist alles." - Seite 188

Er erzählt die Geschichte eines Mädchens, das kein richtiges Mädchen ist, das weder algerisch noch französisch ist, weder Vorstädterin noch Pariserin, eine Muslimin, glaube ich, aber keine gute Muslimin, eine Lesbe mit anerzogener Homophobie. Was noch? - Seite 190
 
 

  • Herausgeber: Claassen; 3. Edition (3. Mai 2021)
  • Sprache: Deutsch
  • Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
  • ISBN-10: 3546100247
  • ISBN-13: 978-3546100243
  • Originaltitel: La Petite Dernière 
  • Übersetzt von: Sina de Malafosse 
  • Preis: 20,60€ (A)
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